Anastasiya Nesterova

Fern am Wasser gebaut

von Günter Baumann

Ein Frühlingswind

Mit diesem Wind kommt Schicksal; laß, o laß
es kommen, all das Drängende und Blinde,
vor dem wir glühen werden –: alles das.
(Sei still und rühr dich nicht, daß es uns finde.)
O unser Schicksal kommt mit diesem Winde.

Von irgendwo bringt dieser neue Wind,
schwankend vom Tragen namenloser Dinge,
über das Meer her, was wir sind.

… Wären wir’s doch. So wären wir zu Haus.
(Die Himmel stiegen in uns auf und nieder.)
Aber mit diesem Wind geht immer wieder
das Schicksal riesig über uns hinaus.

Rainer Maria Rilke

Die Landschafen von Anastasiya Nesterova ver­mitteln den Ein­druck einer großen Weite, die uns in die Ferne zieht. Den­noch wäre es ver­kehrt, hier das Idyll von Meer und Fern­weh zu sehen. In Zeiten des ir­re­para­blen Klima­wandels stellt sich die Frage nach dem Natur­bild in der Kunst und ihrer Ver­ant­wortung. Darf die Dar­stellung schön sein, während die auf­ge­brachte Natur um sich wütet? Ohn­mächtig wird immer wieder deut­lich, da die Kunst die Welt nicht mehr oder gar ›besser‹ rettet, als die Menschen selbst es könnten – wenn sie wirk­lich wollten. Irgend­wie wird sie ja auch immer wieder ge­rettet. Müßten die Künste sich mehr enga­gieren? Also: Wie schön darf die Welt sein? Die Frage stand viel­fach im Raum, in allen mög­lichen Kon­texten. Sie kann sich heute jedoch nicht an­nähernd ver­gleich­bar so stellen, wie vor über einem halben Jahr­hundert, als sich die Künste am Pranger sahen nach den Gräueln des Nazi­reichs: Es ging nicht nur um eine Art Ächtung der Idylle als Weg­ducken vor der Reali­tät, sondern um den Ver­dacht über­haupt, die Künste könnten von der Realität ab­lenken (Stich­wort Adorno: »… nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist bar­barisch …«). Das Diktum vom Ver­sagen der Künste wurde zum Glück, auch schon von Adorno, relati­viert. Die Ab­straktion feier­te nach 1945 die Be­freiung von allen Ideo­logien, und das Menschen­bild wie der Blick auf die Natur und deren Dar­stellung haben sich drastisch ver­ändert.

Ob sich angesichts der gegen­wärtigen Rück­kehr der menschen­ver­achtenden Staats­barbarei in vielen Ländern und eines ver­brecheri­schen Ver­nichtungs­krieges in Europa zu­mindest be­klagen ließe, daß Kunst nichts zum Guten ver­ändern könne, sei dahin­gestellt. Anastasiya Nesterova ist auf der ukraini­schen Halb­insel Krim geboren, die immer auch schon vom nach­sowjetischen Rußland bean­sprucht und 2014 völker­rechts­widrig annektiert wurde. Anastasiya Nesterova ist seit 2005 in Deutsch­land, hat sich der Land­schaft im Norden des Landes ver­schrieben. Aber es stellt sich doch die Frage: Wie kann heute eine Kunst aus­sehen, die sich einem ur­alten Genre widmet, das über die klassischen Medien der Tafel­malerei und der Druck­grafik zum Bild wird? Die Land­schafts­dar­stellung steht in einer anderen Fokussierung als die Figuration. Im Gegen­satz zum Geno­zid und zur Ver­nichtung von Lebens­räumen und mensch­lichen Existenzen durch staat­liche Kriegs­treiber kann die Zerstörung der Natur ethisch nur im Sinne der mensch­lichen Ver­ant­wortung diskutiert werden. – Die Natur selbst ist nicht Opfer im morali­schen Sinne. Sollte der Mensch sie schädigen, ver­nichtet er seine eigene Lebens­grund­lage, während die Natur sich über ihre potentielle Zer­störung hin­aus regene­rieren wird. Es ist ja so, ein Gemein­platz: Der Mensch braucht die Natur, die Natur braucht den Menschen nicht.

Das er­öffnet für das Motiv der Land­schaft viele Möglich­keiten. Wenn die Künst­lerin ihr Werk unter das Thema der Ge­zeiten stellt, macht sie deutlich, was zumal das Meer als Chiffre der Ver­änderung ist: wieder­kehrend auf den ersten Blick (als sei es ein ewig währender Vorgang), bei näherer Be­trachtung aber auch mit der sprich­wört­lichen Er­kennt­nis, daß man genau­so wenig je in den gleichen Fluß wie in das­selbe Wasser steigt (als be­stätigte dies die Be­ständig­keit des Wandels). Der ferne Horizont, den Anastasiya Nesterova zu­läßt, zu­weilen sucht, ist ein gängiges, durch­aus schon roman­tisches Motiv – doch während es damals eher um einen schwei­fen­den Blick in eine fiktive Ferne ging, kann es hier – man be­denke die Vita der Malerin und Grafikerin – schon auch um ein reales Sehnen nach heimi­schen Regio­nen gehen, die ver­loren gingen oder doch in den Zeit­läufen ver­schüttet wurden. Es geht Anastasiya Nesterova um mehr: Sie stellt die Natur nicht als un­be­rührte Land­schaft dar, sondern stets im Kon­text ihrer Bebau­ung, Nutzung sowie mit all den Ein­griffen. Längst ist es so, daß es die reine, sprich authen­tisch natür­liche Land­schaft kaum noch gibt – wo finden wir in Mittel­europa noch ur­tüm­liche Wälder, wo an den euro­pä­ischen Rändern noch ein un­be­rührtes Ufer­stück. Wir leben in Kultur­land­schaften, die im Zu­sammen­spiel mit unserer Zivili­sation ent­standen sind. Leucht­türme, Wind­räder, Schleusen, Strand­bauten auf Pfählen, Wellen­brecher, Baken, Deiche usw. Die maritime Kunst Anastasiya Nesterovas strebt nach Harmonie, wohl wissend, daß sie nicht als Ur­zu­stand zu haben ist, sondern im Ein­klang mit dem mensch­lichen Tun und mit den Elementen. Ein Zurück zum ver­klärten Natur­bild ist nicht mög­lich und auch nicht ihr Thema. Es ist viel­mehr so, daß gerade der ästheti­sche Blick auf die ver­änderte, die berührte Natur Ansporn sein kann, zusammen mit ihr auf­merksam zu machen auf ihre Schön­heit – nicht gegen die Zivili­sation. Die Bild­sprache ist ein­fach, un­auf­geregt. Sie läßt dem Motiv des Wassers viel Raum, inte­griert die Spuren der Zivili­sation, ohne sie zu ver­stecken, im Gegen­teil: sie stehen als Chiffren stell­ver­tretend für den Menschen, der somit gedank­lich im Bild ist. In den Holz­schnitten kommt diese formale Redu­zierung und komplexe inhalt­liche Viel­schichtig­keit noch mehr zum Tragen. Die Technik ist für beides prä­desti­niert. Anastasiya Nesterova, die nicht von un­ge­fähr etliche Stipendien in Nord­deutsch­land und in Skandi­navien (Däne­mark, Finn­land) – neben einigen weiteren Aus­zeich­nungen in anderen Teilen Deutsch­lands – erhalten hat, ist in ihrem Werk zu Hause: Es ist voll Sehn­sucht und Schön­heit, voll Licht und Erleb­nis – alles wandel­bar, ohne Gewähr auf Bestand: Spiel des Windes und der Ver­gäng­lich­keit. Fest­ge­halten in Augen­blicken der Zeit.