Anastasiya Nesterova

Was und Wie

Über die Holzschnitte von Anastasiya Nesterova

von Burkhard Spinnen

Was

Darf ich Sie auf ein Gedanken­experiment mit­nehmen? Danke. Stellen Sie sich vor, Außer­irdische landen auf der Erde. Um das zu können, sind sie uns tech­nisch um Licht­jahre voraus. Klar. Doch ein pro­bl­ema­tischer Neben­effekt dieses Vor­sprungs ist, daß sie sich von einer Begriffs­sprache gelöst haben, in der (wie in unserer Sprache) die einzel­nen Nomen zumeist große Klassen von Ähnli­chem bezeich­nen und erst in der Diffe­ren­zierung durch sprach­liche Kon­texte das Besondere erscheint. Etwas salopp, aber hoffent­lich ein­gängig formu­liert: Die Sprache der Außer­ir­dischen funktio­niert wie ein uni­verseller IKEA-Katalog, in dem noch jed­wede Schraube ihren unver­wechsel­baren Namen hat.

Infolge­dessen kommen die Außer­ir­dischen mit unserer Sprache äußerst schlecht zurecht. Während wir uns mit fünf­hundert Wörtern ganz gut durch den Alltag schlagen und mit fünf­tausend schon einen akade­mischen Diskurs bestrei­ten können, ver­wenden Sie exakt so viele Worte, wie es Phäno­mene gibt. Also sehr viele! Sie sprechen eine Sprache, die wir in unseren religiö­sen Zeit­altern eine heilige nannten, nämlich eine, in der ein jedes Ding und ein jedes Geschöpf seinen eigenen Namen hat und bei diesem auf­gerufen werden kann.

Kein Wunder, daß sie uns nicht ver­stehen. Wir Menschen ver­stehen noch bellende Hunde wesent­lich besser als sie uns. Wir müssen Ihnen vor­kommen wie Kleinst­kinder, die den einen Teil der Welt ›dudu‹ und den anderen ›dada‹ nennen. Was also tun? Nach inten­siven Berat­schlagun­gen und einer grauen­haft großen Zahl geschei­ter­ter Kommu­ni­kations­versuche, auf die ich hier nicht weiter ein­gehe, begreifen die Menschen, daß es ihre einzige Chance ist, mit den Aliens in einer Bilder­sprache zu kommu­ni­zieren, und zwar in einer Bilder­sprache, deren einzelne Worte in unver­wechsel­baren Kunst­werken bestehen. Zehn­tausende von zuvor nur prekär beschäf­tigten Künst­lern, Kunst­historikern und Kunst­interes­sierten aller Geschlechter und Ethnien werden darauf­hin damit beauf­tragt, einzelne Kunst­werke speziellen Texten zuzu­ordnen, in denen komplexe Gegen­stände, Umstände, Bewußt­seins­zustände etc. ent­wickelt und aus­ge­drückt werden.

Bei der probe­weise gleich von Beginn an mit­laufenden Test­kommu­ni­kation mit den außer­irdischen Besuchern stellt sich dann über­raschender­weise heraus, daß der Stil oder die Hand­schrift bestimmter Künst­lerinnen und Künstler offen­bar so kohärent ist (jeden­falls in der Wahr­nehmung der Aliens), daß es gar nicht darauf ankommt – um ein Beispiel zu nennen – welche Gemälde von Vincent van Gogh genau man aus­wählt, um damit eine bestimmte Lebens- oder Welt­haltung aus­zu­drücken. Egal, ob Sonnen­blumen oder Restaurant-Terrasse, die Aus­wertung der außer­irdischen Rück­meldungen läßt darauf schließen, daß die Aliens darin offen­bar immer genau das­selbe ver­stehen, nämlich eine in diesen Bildern aus­ge­drückte höchst komplexe Mischung aus Begeis­terung, Demut und Ver­zweif­lung (um es ganz knapp und natür­lich viel zu knapp zu formu­lieren). Damit bekommt die kunst­historische und kunst­theoretische Forschung natür­lich Material für ein paar hundert Jahre Diskussion, aber das lasse ich hier bei­seite.

Lieber stelle ich mir vor, es ist an mir, ­Anastasiya ­Nesterovas Holz­schnitte diesem neu zu schaffen­den trans­galak­tischen Kommu­ni­kations­system ein­zu­gliedern. Sie haben mich verstanden? Natürlich! Es geht nicht darum, ihre Arbeiten »auf den Begriff zu bringen«. Damit könnten die Aliens nichts anfangen – und wir doch eigent­lich auch nicht, oder? Es geht viel­mehr darum, eine ganz spezielle Haltung, eine ganz beson­dere Emp­findung vom In-der-Welt-Sein aus­zu­machen, die sich keinem ein­zigen Begriff unter­ordnen läßt, und die aus Nesterovas Arbeiten weniger zu destil­lieren als viel­mehr zu ent­wickeln ist.

Das klingt kompliziert? Ist es nicht! Schauen wir uns doch die Holz­schnitte gemein­sam an und prüfen wir unsere Emp­fin­dungen. Ein wichtiger Bestand­teil dieser Emp­fin­dungen ist ganz offen­bar die Wahr­nehmung von Stille. Es ist aber nicht einfach Stille als Geräusch­losig­keit, sondern die Stille einer zumin­dest vorüber­gehend von bzw. vom Menschen »in Ruhe gelassenen« Welt. Es geht also nicht um eine ursprüng­liche Ruhe, sondern um eine Ruhe als Zuge­stän­dnis. Gerade weil die Menschen auf diesen Bildern nicht in Person präsent sind, sind sie all­gegen­wärtig, so all­gegen­wärtig wie einst der Schöpfer in seiner Welt, in der alles der­maßen mit ihm iden­tisch war, daß er in keiner besonderen Gestalt mehr präsent sein mußte, sondern, wie wir das verkürzt aus­gedrückt haben, hoch darüber im Himmel thronte.

Ein weiterer wichtiger Bestand­teil ist, was ich, zögernd, eine gewisse Auf­geräumt­heit nennen möchte. Die Wahr­nehmung der Künst­lerin, die (wie jede Wahr­nehmung, nur bewußter) wahr-nimmt, hat eine Viel­zahl von Ent­scheidungen getroffen, dahin­gehend, was sie für wichtig, weniger wichtig oder irrele­vant hält. Heraus­gekommen ist eine Sammlung des Unver­zicht­baren. Der Verlauf eines Feldes, der Kamm eines Waldes, die Silhouette eines Wind­rads, eines Kutters, die geradezu schockierende rote Farbe eines Rettungs­häus­chens am Strand – aus solchen, und immer aus wenigen, Bestand­teilen entsteht jeweils ein neuer und gleich­zeitig immer derselbe Ausdruck einer bestimmten, unver­wechsel­baren Art und Weise, in der Welt zu sein.

Nun sind Stille und Auf­geräumt­heit noch eher schlichte Wahr­nehmungen (oder Codierungen) ange­sichts Anastasiya Nesterovas Holz­schnitten. Ich denke, darin wird mir jeder folgen. Aber jetzt erlaube ich mir, mich etwas ent­schlosse­ner an den Kern der Arbeiten heran­zu­sprechen. Schließ­lich warten nicht nur die Aliens auf mich. Dieser Kern besteht nun, so glaube ich, zu einem nicht unbe­deuten­den Teil aus Zustim­mung. Damit man mich richtig versteht: Zustim­mung nicht im Sinne von begeister­tem Ein­ver­ständnis mit allem, was da ist, sondern Zustim­mung im Sinne einer eher freund­lichen als resig­nierten Akzeptanz. Zu-Stimmung, quasi im Wort­sinne, als An-Klang der eigenen Existenz an den stillen Ton der wahr­ge­nommenen Schöpfung.

Wenn ich durch Anastasiya Nesterovas Land­schaften gehe, natür­lich nur mit den Augen, dann empfinde ich diese Zustimmung. Aber ich empfinde auch, und nicht nur wegen eines gelun­ge­nen Wort­spiels, eine Zumutung. Und zwar eine Zumutung in des Wortes meisten­teils verges­sener Bedeu­tung, nämlich als Zu-Mutung, das heißt als Auftrag, der von irgendwoher, von irgend­wem kommt, und der in etwa lautet: Du, ja, Du! Du bringst jetzt einmal den Mut auf, diese Welt zu ertragen, wie sie ist. Es wird Dich viel Mut kosten, aber ich weiß, Du besitzt ihn. Also gib ihn jetzt aus, jetzt und hier, und spar ihn bloß nicht auf für soge­nannte bessere Gelegen­heiten. Hier ist Dein Rhodos: Dein Watt, Dein Strand, Deine Welle, Dein Feld, Dein Wald, Deine Boje, Dein Wind­rad, Dein Kutter, Deine Schaukel. Hier, nicht an irgend­welchen »großen« Heraus-Forderungen, kannst, mußt Du beweisen, daß Du diese Welt nicht nur erträgst, mürrisch, deprimiert, sondern daß Du sie trägst, wie sie Dich trägt.

Sie verstehen mich jetzt? Groß­artig! Und dann ver­stehen Sie viel­leicht auch, warum die Aliens mit einem menschen­sprach­lichen Begriff wie Melancholie nichts anfangen können. Das ist ihnen einfach nicht genau genug. Und mir übrigens auch nicht.

Wie

Ich habe mir von Anastasiya Nesterova zeigen lassen, wie ein mehr­farbiger Holz­schnitt entsteht. Und jetzt bin ich der Ansicht, man sollte das im Kopf haben, wenn man ihre Arbeiten ansieht. Sie ent­stehen nach der Technik der »Verlorenen Form«. Das »Original«, mit dem gedruckt wird, ver­ändert sich im Schaffens­prozeß mit jeder Farbe, die hinzu­gefügt wird. Jede einzelne Druck­phase hinter­läßt eine feste Anzahl von Kopien, die all­mählich, mit jeder neuen »Über­druckung« näher an das gedachte End­ergebnis heran­gebracht werden. Und wohl­ver­standen – schon während dieses Vorgangs und erst recht an seinem Ende ist die Möglich­keit dahin, weitere Kopien her­zu­stellen.

Vielleicht erinnert man sich am besten an die Technik der Ölmalerei, um das Aus­maß des Unter­schieds zu begreifen. Auf dem Ölbild lassen sich die Farben beliebig lange hin und her schieben, dabei ist das Ergebnis solcher Ein­griffe unmittel­bar wahr­nehm­bar. Beim mehr­farbigen Holz­schnitt geht die Künst­lerin mit einer Vor­stellung von Motiv, Farbe etc. an die Arbeit und erhält dabei nur Schritt für Schritt Auf­schluß darüber, inwie­weit sie dieser Vor­stellung nahe gekommen ist. Nun kann ich mir vor­stellen, daß technische Kenntnis und Routine den Abstand zwischen Vor­stellung und Ergebnis ver­kleinern können, aber die Künstlerin sagt selbst, daß sie – und das ist kein Kalauer – mit einem gewissen Maß an Unbere­chen­bar­keit rechnen muß.

Und nun? Darf man darüber nach­denken, ob und inwie­fern das Was und das Wie in Anastasiya Nesterovas Holz­schnitten in einer Beziehung zuein­ander stehen? Ich habe darüber nach­ge­dacht. Und mein Ergebnis: Womöglich gibt es da eine Korrespon­denz zwischen der gestal­te­rischen, künst­lerischen Absicht und der demütigen Zustimmung (oder zustimmen­den Demut), mit der die Künst­lerin ihren Ergeb­nissen begegnet.

Und ist es nicht so wie auch sonst in der Welt? Die ist einer­seits vom Menschen und seinen Absichten geprägt. Selbst das Wasser, das man doch eigent­lich nicht formen kann, ist von ihm in Form gebracht worden. Alles ist irgend­wie ange­ordnet (im doppelten Wort­sinne, also auch: befohlen), und überall haben mehr oder weniger zuständige Menschen ihre Signatur hinter­lassen. Anderer­seits ist klar, daß der Mensch die Sache, also die Welt nicht voll­ständig in der Hand hat, mag er das auch in trauriger Selbst­über­schätzung glauben. Da arbeitet beständig eine Kraft, die andere Ziele hat als er. Sie schrägt und kräuselt die Linien, sie verwischt die trenn­scharfen Kanten. Und immer legt sie einen ebenso kraft­vollen wie selbst­genüg­samen Himmel über die mensch­lichen Machen­schaften, unter dem sie oft genug bescheiden oder sogar ein bißchen verhuscht wirken. Dauernd wollen wir Menschen etwas – in der Welt und in der Kunst. Wir schwören auf die Technik, aber die ist auch nur ein Teil der Natur, und die Natur mitsamt ihren Um- und Gegen­ständen ist eine, wenn­gleich oft stille, so doch gewaltige Macht. Wir täten gut daran, uns mit ihr zu ver­bünden, statt sie mit irgend­welchen Tricks zu über­listen. Wir sollten Demut zeigen, Zustimmung signali­sieren, sie ertragen und tragen. Das als Botschaft an die Aliens, woher auch immer sie kommen mögen.